Samstag, 2. Januar 2010

Käse für Herrn Haselnuss

"Winston Schmidt ging langsam die große Prachtstraße des Vegetarismus hinunter. Seit der Große Haselnussbruder und seine Partei 'Menschen Im Sinne des Tieres', M.I.S.T., über Nordkastanien herrschten, war Fleischkonsum verboten, vegetarisches Falafel als Heiliges Mal (sic!) deklariert und Fliegen als 'Kung Fu Kitzel Kämpfer' zu bezeichnen. Diese neue Sprache, oder 'Blaschwätz', wie sie offiziell hieß, war die Amtssprache von Kastanien. Alles, auch die Rechtschreibung, hatte sich dem Neuen Perfektionismus, kurz Nepf, unterzuordnen. Selbstverständlich konnte niemand erwarten, dass der Große Haselnussbruder sich der Rechtschreibung unterwarf. So, wie die Sterne bloße Kohlebecken waren, die die Partei aufgehangen hatte, um die Navigation zu vereinfachen, so war Rechtschreibung bloß ein Hindernis, das der große Haselnussbruder heldenhaft überwunden hatte.
Obwohl Winston Schmidt besonders langsam ging, traf er dennoch viel zu früh zur Hassminute ein. Im großen Haselnuss-Saal war es aber schon sehr voll, als er kam.
Er fand in der vorletzten Reihe Platz. Dort saß schon seine Nachbarin, Frau Siebenbergen-Wiczorek-Hülütürk-Gernhafen, eine begeisterte Anhängerin des Großen Haselnussbruders.
'Haben Sie gehört, GEZ-Abschaffer, was dem Großen Haselnussbruder ganz allein gelungen ist?', schwatzte die Frau sofort los, als Winston Schmitz sich neben sie setzte.
'Nein, GEZ-Abschafferin, was gibt es denn für neue aufregende Heldentaten des Großen Haselnussbruders zu berichten?', fragte Winston zurück. Er konnte nicht umhin, den bebenden Schnurrbartansatz der Dame zu bemerken. Es war natürlich Usus in Nordkastanien, sich mit 'GEZ-Abschafferin' bzw 'GEZ-Abschaffer' anzureden.
'Stellen Sie sich vor, GEZ-Abschaffer, der Große Haselnussbruder hat ganz allein die Heldentat begangen, eine Scheibe Käse an den Intendanten zu verschicken! Und', hier wurde die Stimme von Frau Siebenbergen-Wiczorek-Hülütürk-Gernhafen ganz bedeutungsschwanger, 'der Große Haselnussbruder hat das ganz allein gemacht! Ganz allein hat er eine Scheibe Käse eingepackt! Und es war EDAMMER!!!'
Winston Schmidt staunte pflichtgemäß. Schon lange waren die Aktionen des Großen Haselnussbruders so absurd, dass man sie als grelle Abenteuertat hinstellen musste, oder man hätte ihn ausgelacht. Dafür gab es offiziell die Bezeichnung des 'Halbwiss'. Das war, vereinfacht ausgedrückt, die Anerkennung einer schwachsinnigen und sogar kontraproduktiven Leistung als genial und herausragend. Sollte der Große Haselnussbruder zum Beispiel auf den Gedanken kommen, ein kurzes Studium der Jura sei bereits ausreichend, um eine akademische Bildung und Weisheit zu erlangen, so hatte er natürlich Recht. 'Halbwiss' bedeutete auch, literarische Größen nur streifen zu können, um sie vollständig zu erfassen. Nach 'Halbwiss' konnte der Große Haselnussbruder sogar Teilchenphysik beherrschen und ein absolut harmloses Experiment zu einer Teufelsmaschine erklären, die den frühen Ladenschluss bedeutete. Der Große Haselnussbruder hatte auch hier Recht.
Winston Schmidt schüttelte unmerklich den Kopf. Irgendwann hatte er gelernt, die Welt sei komplexer als die Philosophie des Großen Haselnussbruders.
Aber jetzt hatte er keine Zeit mehr, diesen Gedanken hinterher zu rennen. Das Licht im HASEL-Theater ging aus. Flackernd und unscharf, mit leierndem Ton, erschien die erste Vorführung des Abends. Es war ein Bericht der Operation REHA aus einem fremden Land. Irgendwie ging es um Fliegen und einen See, der Menschen trotz ihres Gewichtes und abstoßenden Äußeren trug.
Für Winston war es schwer, die kleinen Clips des neuartigen Rundfunksenders zu ertragen. Was dort gezeigt wurde, war peinlich, dämlich und über alle Maßen schlecht. Trotzdem jubelte er. Was blieb ihm anderes übrig?
Als der Clip vorbei war, entfiel Winston sofort der Inhalt. Der neuartige HASEL Sender, so fand er, war wirklich etwas für die Schicht der Einfalts, der dümmsten und naivsten Klasse Nordkastaniens. Aber selbst diese lachten inzwischen nur noch über die Sendungen, die dort offensichtlich von den unfähigsten Idioten der Vegetarier Klasse verbrochen wurden.
Doch nach diesem eher lächerlichen Anfang wurde es Ernst. Winston machte sich bereit. Die Fanfaren hämmerten ein 'Fleischlos-Besser-Superbernd-tanzt!' in den Saal.
Dann erschien ohne Vorwarnung das Gesicht eines Mannes auf der Leinwand, das jedem in Nordkastanien wohlbekannt war. Es war Herr Stachelbeere!
'KÄSE!', rief Winston Schmidt als Erster.
'KÄSE!', rief die Frau neben ihm.
'KÄSE! KÄSE! KÄSE!', riefen auch alle anderen im Saal. Und wieder und immer wieder heulte, zischte und schrie es: 'KÄSE! KÄSE! KÄSE! KÄSE! KÄSE!'
Jetzt flogen auch die ersten Scheiben. Gouda, Mozzarella, Brie, Scheibletten. Jeder warf irgendwas auf die Leinwand. 'KÄSE!', brüllte Winston aus Leibeskräften und warf ein ganzes Päckchen Streichkäse auf den Intendanten.
Das wird ihm eine Lehre sein!, dachte Winston. Der böse Intendant wird es nie wieder wagen, den Großen Haselnussburder zu zensieren! Käse, Käse und nochmals Käse wird der böse Intendant bekommen, wenn er versucht, den Schutz der Persönlichkeit einzuklagen.
Gott sei Dank, als die Emotionen am Höchsten kochten, verschwand das Gesicht von Herrn Stachelbeere. Statt dessen kam der Große Haselnussbruder persönlich auf die Leinwand.
Er sprach. Was er sagte, war völlig egal. War es vernünftig? War es zum Thema? Enthielt es eine Menge Rechtschreibfehler? Ging es um frühen Ladenschluss? Es war egal. Der Große Haselnussbruder redete und redete und redete und redete.
Winston Schmidt war begeistert. Er war wirklich und ehrlich überzeugt. Er liebte den Großen Haselnussbruder."


Die Stimme der Gegenmacht bitte erneut George Orwell um Verzeihung. Und natürlich sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Haselnüssen völlig zufällig und nicht beabsichtigt. Selbstverständlich ist die Aktion "Käse für den Intendanten" frei erfunden. Niemand mit gesundem Menschenverstand käme auf so etwas.
Ein frohes neues Jahr!

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